Menschen mit Keimungshemmung

Ein Gleichnis zwischen Pflanzensamen mit physischer Dormanz und den Blockaden auf unserem Lebensweg

Dormanz verhindert Keimung

Was ist Dormanz?

Kulturpflanzen wurden durch Züchtung darauf optimiert, schnell und uniform zu keimen, sobald sie gesät wurden. Samen von Wildpflanzen hingegen zeigen die sogenannte „Dormanz“, eine Keimungshemmung. Sie keimen nicht sofort, auch wenn alle Umweltbedingungen optimal sind.

Es wird vermutet, dass Dormanz dazu dient, die Überlebenschancen der Art zu verbessern. Denn aufgrund ihrer unterschiedlichen Dormanz keimen nicht alle Samen gleichzeitig, so dass etwaige Dürren oder Pathogene nie alle von ihnen hinwegraffen werden.

Kulturpflanzen sind darauf optimiert schnell und gleichzeitig zu keimen.

Viele Faktoren beeinflussen die Dormanz des einzelnen Samens

Dormanz ist angeboren und kann durch Strukturen der Mutterpflanze oder des (pflanzlichen) Embryos entstehen. Ursachen für die Hemmung der Keimung können physiologische (z.B. Phytohormone), morphologische (z.B. unterentwickelter Embryo) oder physische (z.B. verholzte Fruchtwand) Faktoren sein. Auch Kombinationen dieser Faktoren sind möglich. Zusätzlich wirken während der Samenentwicklung verschiedenste Umwelteinflüsse auf die Pflanze ein.

Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Dormanz des einzelnen Samen davon abhängt, an welcher Mutterpflanze er entstanden ist, wie es dieser während der Samenentwicklung ging, wo an der Mutterpflanze der Same wuchs, wie groß er ist, welche Form er hat, wann er die Mutterpflanze verließ und welchen Bedingungen er seitdem ausgesetzt war.

Wildpflanzen keimen zeitlich gestaffelt – in Abhängigkeit von vielen Faktoren

So wie die der Samen ist auch die Entwicklung von uns Menschen hochindividuell. Auch wenn es manchmal so erscheint, als ob wir einem allgemeingültigen (Schönheits-)Ideal zustreben müssten. Wir sind weit davon entfernt, so uniform zu sein wie Kulturpflanzen.

Hartschaligkeit

Undurchlässig für Wasser

Eine besonders faszinierende Form der Dormanz ist die physische Dormanz, auch als „Hartschaligkeit“ bezeichnet. Hartschalige Samen haben nicht zwingend eine besonders harte Schale, sondern sie besitzen eine wasserundurchlässige Schicht in ihrer Samenschale. Diese Schicht verhindert, dass der Embryo im Samen mit Wasser in Berührung kommt und so quellen und keimen kann.

Hartschalige Samen haben eine wasserundurchlässige Schicht, die verhindert, dass sie keimen.

Mich erinnern hartschalige Samen an Menschen, die in Reaktion auf überfordernde Erfahrungen in ihrer Vergangenheit bestimmte Aspekte ihres Selbst abgeschottet haben. Sie bauen eine gefühls-undurchlässige Schutzschicht um sich auf.

Genau wie bei der Dormanz der Samen wirken bei der Entwicklung dieser „menschlichen Dormanz“ die auslösenden Erfahrungen mit Prägungen der Eltern und der individuelle Empfindsamkeit des Menschen zusammen. Ein traumatischer Unfall kann auf einen Menschen dieselbe abschottende Wirkung haben, wie die Leistungsfixierung der Mutter und Hänseleien in der Schule auf einen anderen.

Widerstandsfähig

Hartschalige Samen sind sehr widerstandfähig gegen Umwelteinflüsse, zum Beispiel gegen Verdauungsprozesse in Tieren.

Hart und widerstandfähig gegen Umwelteinflüsse zu sein heißt auch, dass man nicht schnell keimt, wächst und blüht. [Anm. Kokosnüsse sind nicht hartschalig, sondern vermutlich Vertreter der morpho-physiologischen Dormanz (BASKIN & BASKIN 2013)]

Durch ihre schützende Abschottung sind „hartschalige“ Menschen in der Lage, ihre Leben gesellschaftskonform zu führen.

Darüber hinaus können sie in Stresssituationen häufig extrem ruhig bleiben und bedacht handeln, weil die Punkte, an denen sie empfindlich sind, wie betäubt sind. Ihre Gefühlsaktivität ist auf ein Minimum reduziert.

Wie ihre pflanzlichen Entsprechungen sind sie sehr widerstandsfähig, aber sie bleiben eben auch ein Same. Davon wie es ist zu wachsen oder gar zu blühen, können sie nur träumen.

Brechen der Keimungshemmung

1. Durch Umwelteinflüsse

In der Natur tragen unterschiedlichste Reize dazu bei, dass die Dormanz gebrochen wird und ein Same beginnt zu keimen.

Das sind zumeist Kombinationen von Temperatur und Feuchte, aber auch das Lichtregime spielt eine Rolle. Die Samen der Vogelkirsche (Prunus avium L.) benötigen beispielsweise mehrere Jahre, in denen die wechselnden Temperaturen von Sommer und Winter dazu führen, dass ihre Keimungshemmung abgebaut wird[1].

Und schließlich gibt es auch Arten, deren Dormanz nur mit Hilfe von Feuer gebrochen werden kann, zum Beispiel die Weißliche Cistrose (Cistus albidus L.)[2].

Im günstigsten Falle passiert das auch uns. Unsere Schutzmechanismen aus der Vergangenheit werden durchbrochen, wenn wir spüren, dass die Bedingungen sich geändert haben und jetzt positiv für unsere Entwicklung sind.

Wir beginnen zu keimen und über das, was wir bis bisher waren, taten und dachten, hinauszuwachsen.

Temperatur, Wasser und Licht lassen sich in emotionale Wärme, Verbundenheit und Freude übersetzen. Es gibt aber auch Menschen, bei denen das Äquivalent zu Feuer oder Eiseskälte nötig ist.

Hinzu kommt, dass einige Menschen einen kurzen, spezifischen Reiz brauchen, während bei anderen mehrere Zyklen verschiedener Reizkombinationen nötig sind. Wie bei den Wildpflanzen sind die Bedürfnisse der Menschen unterschiedlich.

2. Durch das Altern

Unter relativ trockenen Bedingungen führt die sogenannte „Nachreifung“ dazu, dass die Dormanz von Samen mit der Zeit abnimmt. Auch wenn nicht die optimalen Bedingungen herrschen, keimen die Samen nach einer bestimmten Zeit trotzdem – oder sie sterben ohne jemals gekeimt zu haben.

Auch die Zeit ist eine wichtige Komponente, um Keimungshemmungen abzubauen.
Die Erfahrungen im Laufe unseres Lebens können helfen, Schutzmechanismen loszulassen, die in der Vergangenheit wichtig für uns waren uns jetzt aber blockieren.
Doch bei vielen Menschen reicht das nicht aus und sie werden Zeit ihres Lebens nicht das, was sie sein wollen und könnten.

3. Künstlich

Die Dormanz kann auch künstlich gebrochen werden. Im Allgemeinen werden dazu die Bedingungen, die in der Natur zur Brechung der Dormanz führen, nachgeahmt, z.B. durch Kälte-Wärme-Zyklen im Labor.

Bei hartschaligen Samen löst auch eine kleine Verletzung der Samenschale die Keimung aus. Dabei muss man behutsam vorgehen, um den Embryo im Innern des Samens nicht zu verletzen.

Bei diesen „Manipulationen“ ist es wichtig, dass der nun ungeschützte Same die optimalen Bedingungen für sein weiteres Wachstum erhält.

Für mich ist dieses Vorgehen die Entsprechung der Therapie. Bewusst greift hier ein anderer Mensch in unsere innerseelischen Prozesse ein.
Ganz entscheidend ist für mich dabei, dass genau wie bei pflanzlichen Keimlingen die Bedingungen, unter denen gearbeitet wird, absolut geschützt sind (siehe geschützter Raum). Denn wenn Keimlinge es nach der Keimung nicht schaffen, sich weiterzuentwickeln, liegt das zumeist an ungünstigen Einflüssen im Saatbett.

4. Mit Hilfe von Samenpredatoren

Charmant ist, dass auch Mäuse, Käfer und Co. Helfer für das Brechen der Dormanz sein können. In der Absicht, die Pflanzensamen zu fressen, verschleppen sie sie aus der Umgebung der Mutterpflanze z.B. in ihren Bau oder an besondere Lagerstätten.

Samen, die sie vergessen zu fressen, können sich so plötzlich in ein viel keimungs- und entwicklungsfreundlicheres Umfeld versetzt finden.

Auch bei uns Menschen gibt die eine oder andere Person, die uns ohne es zu wollen in eine neue Richtung stupst. Die uns in Situationen bringt, auf die wir uns niemals eingelassen hätten.
Oft sind das Freunde, Kinder oder Lebens-Partner. Sie wollen uns nicht fressen, sie meinen es gut mit uns, aber sie wollen uns bei sich in ihrem Umfeld haben.
Nicht selten brechen sie damit unsere Dormanz und geben uns so die Möglichkeit, zu keimen und über unsere Beschränkungen hinauszuwachsen.

Wo das Gleichnis ungleich wird – zum Glück

Unsere Wahrnehmungsfähigkeit für die optimalen Keimungsbedingungen ist genauso mysteriös, wie die der Samen. Dennoch haben wir als Menschen einen entscheidenden Vorteil: Wir sind nicht passiv.

Wir können uns im Gegensatz zu Samen selbstständig in Umgebungen bewegen, die uns helfen zu „keimen“.


Wir können uns aktiv mit unserer Situation auseinandersetzen, Entscheidungen treffen und Maßnahmen zur Veränderung ergreifen.


Wir können uns dem Einfluss von „Samenfressern“ entziehen.


Wir können uns Unterstützung von Freunden, Therapeuten oder Coaches suchen.

Unsere Entwicklung liegt in unserer Hand.

Zu diesem Beitrag haben mich inspiriert

Wissenschaftlich

William E. Finch-Savage & Gerhard Leubner-Metzger (2006): Seed dormancy and the control of germination. The New Phytologist, vol. 171, S. 501-523. DOI: 10.1111/j.1469-8137.2006.01787.x

William E. Finch-Savage & George W. Bassel (2016): Seed vigour and crop establishment: extending performance beyond adaptation. Journal of Experimental Botany, vol. 67, S. 567-591. DOI: 10.1093/jxb/erv490

Menschlich

Thomas Hübl: https://thomashuebl.com/de/


Weitere Quellen

Baskin, J.M. & Baskin, C. (2013): What kind of seed dormancy might palms have? Seed Science Research 24, 17-22. DOI: 10.1017/S0960258513000342

[1] Suszka, B. (1962): Influence of temperature factor on the breaking of dormancy in mazzard seeds (Prunus avium L.). Aboretum Kornickie 7, 263–268

[2] Luna, B. (2020): Fire and summer temperatures work together breaking physical dormancy. Scientific Reports 10, 6031.